Freitag, 28. Dezember 2007
Väterchen Frost, Eletronikversand, orthodoxe Kirche, Demokratie, Werbung, Hunger - und Russland
Auch ohne den Anspruch, die Nachrichten vollständig korrekt wiederzugeben, hat mich gestern doch eine Radiomeldung überrascht, die geradezu prädestiniert für einen Aufklärungsbeitrag ist (http://www.n-tv.de/897156.html): In Russland hat eine Elektronikversandkette in einer Werbung behauptet, dass Väterchen Frost (das russische Äquivalent zum Weihnachtsmann), gar nicht existiert. Nun sollte man denken, dass es unproblematisch ist, eine solche Aussage zu machen, die ja erstens wahr und zweitens politisch unproblematisch zu sein scheint. Weit gefehlt. Vor Gericht (auf wessen Klage hin ist mir unbekannt) wurde ein Werbeverbot verhängt. Der interessante Twist in der Urteilsbegründung: Die Leugnung der Existenz von Väterchen Frost ("Djed Moros") impliziert, dass alle Eltern, die ihren Kindern von Väterchen Frost erzählen, und ihn für die Lieferung der Weihnachtsgeschenke verantwortlich machen, lügen. Und da schließlich keine Werbung das Großteil der Eltern zu Lügnern denunzieren darf, muss die Werbung halt verboten werden. Fertig.

Interessant sind die weiteren kuturellen Hintergründe. So wurde Väterchen Frost in den 20er Jahren des 20sten Jahrhunderts als Gegenbewegung zum orthodoxen Weihnachtsfest am 6./7. Januar "erfunden" (http://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%A4terchen_Frost). Den sowjetischen Regierenden war schließlich die Kirche ein Dorn im Auge, Väterchen Frost eine List, um das wichtigste Fest zu verweltlichen. Auch heute ist das Verhältnis zwischen Staat und Kirche gespannt, genauso wie dass zwischen Ratio und Traditio. Die Rechtsprechung konnte mit dem obigen Urteil zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits wurde die Tradition, konsistent mit der gegenwärtigen Verklärung von Stalins und Putins Herrschaft, über die Meinungs- und Werbefreiheit gestellt, und die konservativen Werte auch gegen die Logik hochgehalten. Andererseits konnte durch die Bestätigung des Primats von Väterchen Frost über die Realität auch das Primat gegenüber kirchlichen Traditionen verbrieft.

Russland ist und bleibt ein Trauerspiel, zumindest aus Sicht des aufgeklärten Europas. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich sind exorbitant, die zwischen den infrastrukturellen Hochburgen in Moskau und St. Petersburg gegenüber dem versumpfenden Sibirien grotesk, und die Sehnsucht der Wähler nach starker Führung und Ablehnung nicht massenfähiger Meinungen für einen satten, warmen und mündigen Mitteleuropäer unnachvollziehbar.

Eigentlich sollten sich die "Aufklärung 2.0"-Beiträge vornehmlich mit der religiösen Verdummung auseinandersetzen. Das obige Bespiel zeigt, dass irrationales und opportunistisches Verhalten eher ein Zeichen authoritärer als spiritueller Strukturen ist.

... comment