Samstag, 23. Februar 2008
Religiösität als Gefahr
Hauptaufgabe jeder Religion ist Sinngebung: Weshalb bin ich da? Welchen Sinn hat das menschliche, speziell mein Leben? Über Jahrtausende haben Naturreligionen wie "moderne" Religionenden Menschen darauf Antworten gegeben. Diese Antworten waren, aus der Sicht praktisch aller anderen Glaubensrichtungen, durchgängig falsch. Der Reinkarnationsgedanke etwa, der den diesseitigen Altruismus durch eine Wiedergeburt mit guten oder zumindest verbesserten Status verspricht, führt direkt zu sozialem Handeln. Irgendwann in den ersten Jahrhunderten nach Christus auch in den christlichen Glauben aufgenommen, verdienen sich seither "gute" Christen ihr ewiges Leben im jenseitigen Paradies.

Mit sinngebender Autorität ausgestattet, wurden Religionsführer natürlich auch um Rat für profane Probleme gebeten, bzw. empfanden sie es als ihre Pflicht, ihre erweiterte Interpretation der Religion als Dogma unters devote Volk zu bringen. Mit den Jahrhunderten verschoben sich die Probelme der Ratsuchenden. Vor allem die Naturwissenschaften machten religiöse Deutungen für Blitz und Donner, Gezeiten und Sonenfinsternisse entbehrlich. Und heute? Welche Erklärungen und Verhaltensanweisungen bieten die großen und kleinen Religionsausleger für Energiekrisen, Terrorismus, AIDS und Naturkatastrophen an? Wie soll sich der "Gläubige" gegenüber Immigranten, Klimawandel, Globalisierungsfolgen (Plagiaterie, Internetpornographie, Copyright-Vergehen) und bettelnden Wirtschaftsverlierern verhalten?

Die Antworten darauf stehen nicht in Bibel, Koran, Thora. In einer Welt, in der die geschiedene Ehe häufiger ist als die Treue, in der die früheren Feindbilder wie Homosexuelle und Andersgläubige durch die internationalen Menschenrechte den "guten Christen" gleichgestellt sind, in der wir Industrienationenbürger mehr Zeit mit Fernsehen, Handyspielen und Computer verbringen als mit unseren Mitmenschen, in der der Einzelne, das Individuum, das Maß der Dinge und trotzdem bedeutungslos geworden ist, in dieser Zeit bieten die großen Religionen Phrasen an, Nabelbeschau (wie Wojtilas und Ratzingers Versuche, unterschiedliche Strömungen der katholischen Kirche zu einen, als hätten wir nicht ganz andere Sorgen) oder einfach anachronistische Stereotypen, Reinkarnationen überkommen geglaubter Feindbilder.

Wir Menschen sind faul, zumindest im Grundsatz, den Aktivität verbraucht Energie, die uns woanders dann fehlen könnte. - Wie, Sie sind nicht faul? Sie verbringen nicht die bundesdurchschnittlichen 4 1/2 Stunden täglich vor dem Fernseher? Sie fahren nicht mit dem Auto zur Arbeit und zum Einkaufen? Sie verbringen gerne 10 Minuten vor einem Touchscreen um eine Zugfahrkarte, 20 Minuten am Modem um in Buch online zu kaufen? - Und, leider, sind wir nicht nur körperlich faul. Gerne lagern wir Entscheidungsprozesse aus, an Politiker, Gerichte und Kommissionen. Nur deren Analysen und Vorschläge sind nicht in 2-Minuten-Beiträgen für die Tagesschau vermittelbar. Sterbehilfe, Armutsbekämpfung und CO2-Ausstoß erfordern aktives Denken, Diskutieren, Sich-Informieren. Weder Sonntags in der Kirche, Synagoge oder Moschee, noch auf Wahlkampfveranstaltungen un Demonstationen kann der heutige Bürger seine Sorgen durch eine Wahrheitsinfusion lösen. Im Gegenteil: Je einfacher die Rezepte, je lauter deren Verkäufer, je ausschließlicher der Wahrheitsanspruch, desto sicherer können wir sein, dass es sich um eine ethisch-moralisch inhaltsleere Mogelpackung handelt.

Der Ruf von Politikern nach moralischen Leitlinien durch die großen Kirchen ist das traurigste Kapitel der modernen Sinnsuche. 200 Jahre nach der Aufklärung sind alle säkularen Gedanken vergessen. Die 35 Millionen orthodoxen Katholiken in der EU erhalten mehr Gehöhr als die 200 Millionen "Ungläubigen". Gläubige, die in der Predigt Antworten und Hilfe suchen, erhalten Re-Interpretationen von biblischen Vorgängen ohne Gegenwartsbezug. Kirchenoberhäupte verbrämen Sexualität, geschlechtliche Gleichstellung, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und historische Wahrheiten. Kurz: Dem denkenden, menschenliebenden, demokratischen Bürger könne die selbst hilflosen Großreligionen für die meisten seiner Fragen keine antwort geben, bei vielen seiner Probleme ihm nicht beistehen.

Was bleibt? Jedes Zeitalter ist voller ungeklärter Fragen, nicht nur unseres. Aber genausowenig, wie der verblendete Patriotismus die Sinnkrise des Deutschlands um 1920 und 1930 zu lösen geholfen hat, genausowenig hilft heute das Nachbeten von Scheinlösungen moderner Vorbeter. Jeder von uns muss für sich alleine einen Umgang mit den Fragen der Zeit finden: im Gespräch, im Miteinander, aber doch für sich selbst. Wenn Religionen einen konstruktiven Beitrag heute liefern wollten, dan dadurch, dass sie die Gläubigen daran erinnern, dass kein Mensch, kein lebendiger und kein toter, keiner, die "Wahrheit" kennt; dass deshalb Toleranz und kritisches Hinterfragen die einzigen Wege sind, die Verantwortung, die jeder von uns für sein Tun und für die Generationen von morgen trägt, auszuhalten und auszuformen; dass Mitläufertum und Hörigkeit noch nie eine Lösung waren; und, dass Sorgen und Probleme untrennbar mit unserem Dasein verbunden sind: einen "Ausweg", den gibt es nicht. Zwar nicht stringent, aber heute als Leitlinie für das eigene Verhalten angemessener denn je, sei an Hannah Arendts Aussproch erinnert: "Denken heißt immer zunächt auch kritisch denken, und kritisch Denken heißt dagegen sein."

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Freitag, 28. Dezember 2007
Väterchen Frost, Eletronikversand, orthodoxe Kirche, Demokratie, Werbung, Hunger - und Russland
Auch ohne den Anspruch, die Nachrichten vollständig korrekt wiederzugeben, hat mich gestern doch eine Radiomeldung überrascht, die geradezu prädestiniert für einen Aufklärungsbeitrag ist (http://www.n-tv.de/897156.html): In Russland hat eine Elektronikversandkette in einer Werbung behauptet, dass Väterchen Frost (das russische Äquivalent zum Weihnachtsmann), gar nicht existiert. Nun sollte man denken, dass es unproblematisch ist, eine solche Aussage zu machen, die ja erstens wahr und zweitens politisch unproblematisch zu sein scheint. Weit gefehlt. Vor Gericht (auf wessen Klage hin ist mir unbekannt) wurde ein Werbeverbot verhängt. Der interessante Twist in der Urteilsbegründung: Die Leugnung der Existenz von Väterchen Frost ("Djed Moros") impliziert, dass alle Eltern, die ihren Kindern von Väterchen Frost erzählen, und ihn für die Lieferung der Weihnachtsgeschenke verantwortlich machen, lügen. Und da schließlich keine Werbung das Großteil der Eltern zu Lügnern denunzieren darf, muss die Werbung halt verboten werden. Fertig.

Interessant sind die weiteren kuturellen Hintergründe. So wurde Väterchen Frost in den 20er Jahren des 20sten Jahrhunderts als Gegenbewegung zum orthodoxen Weihnachtsfest am 6./7. Januar "erfunden" (http://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%A4terchen_Frost). Den sowjetischen Regierenden war schließlich die Kirche ein Dorn im Auge, Väterchen Frost eine List, um das wichtigste Fest zu verweltlichen. Auch heute ist das Verhältnis zwischen Staat und Kirche gespannt, genauso wie dass zwischen Ratio und Traditio. Die Rechtsprechung konnte mit dem obigen Urteil zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits wurde die Tradition, konsistent mit der gegenwärtigen Verklärung von Stalins und Putins Herrschaft, über die Meinungs- und Werbefreiheit gestellt, und die konservativen Werte auch gegen die Logik hochgehalten. Andererseits konnte durch die Bestätigung des Primats von Väterchen Frost über die Realität auch das Primat gegenüber kirchlichen Traditionen verbrieft.

Russland ist und bleibt ein Trauerspiel, zumindest aus Sicht des aufgeklärten Europas. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich sind exorbitant, die zwischen den infrastrukturellen Hochburgen in Moskau und St. Petersburg gegenüber dem versumpfenden Sibirien grotesk, und die Sehnsucht der Wähler nach starker Führung und Ablehnung nicht massenfähiger Meinungen für einen satten, warmen und mündigen Mitteleuropäer unnachvollziehbar.

Eigentlich sollten sich die "Aufklärung 2.0"-Beiträge vornehmlich mit der religiösen Verdummung auseinandersetzen. Das obige Bespiel zeigt, dass irrationales und opportunistisches Verhalten eher ein Zeichen authoritärer als spiritueller Strukturen ist.

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Sonntag, 9. Dezember 2007
Aufklärung 2.0: Kritisches Denken, globale Verantwortung, Glaube, Klimawandel, Medien, Authoritätsverlust, Skandalisierung, Unaufgeklärtheit, Unwissenheit, Unmündigkeit, Faulheit, Feigheit - und die Desertifizierung der Sahelzone
Weshalb kümmert uns der Klimawandel? Wegen der wärmeren Winter und der instabileren Großwetterlagen im heimischen Sommerurlaub? Wegen der Krankheiten, die jetzt auch im wärmer werdenen Norden Fuß fassen? Wegen der aussterbenden Hochgebirgspflanzen und Eisbären? Wegen der höheren Versicherungspolicen für Häuser in Überschwemmungsrisikobereichen? Wegen der unerwarteten Effekte der Weltwirtschaft, in der Diktaturen mit Öl-, Gas- und Uranvorkommen immer stärker in unser Leben eingreifen können? Ha! So lange hat es gedauert, bis sich ein fremdes Thema eingeschlichen hat. In Radio und Fernsehen geht das schneller: Der Klimawandel (nicht die Überfischung) bedroht senegalesische Fischer; der Klimawandel (nicht die Überstrapazierung der Böden durch religiös-bedingt ungezügelt wachsende Bevölkerung und ihre alles-fressenden Ziegen) lassen die Sahelzone verwüsten; der Klimawandel (nicht die Abholzung für Holzexport und landvernichtende Rodungsland“wirt“schaft) lässt die Verdunstung im Amazonasgebiet zurückgehen.

Die Welt ist schon ohne Menschen ein unvergleichlich kompliziertes Gebilde gewesen. Durch uns wurde es nicht leichter. Unsere hoffnungslos überbevölkerte Erde belastet alle Resourcen bis ans Limit, und täglich reißt irgendwoder letzte Faden, an dem Grundwasserstand oder -sauberkeit hängen, Überleben von Wildtieren oder -pflanzen, Mutterboden an gerodeten Hängen, Baugrund an morastigen Küsten oder Atemluft in autoerstickten Großstädten.

Mit unserer Fähigkeit, sehenden Auges tatenlos unsere eigene Vernichtung herbeizuführen, sind wir Menschen wahrscheinlich keine Ausnahme in der Natur. Mit Zeitungen, Büchern, weltweiten Organisationen und Internet sind wir aber die einzige Art, die theoretisch in der Lage wäre, sich gegen diese Selbstzerstörung zu organisieren.

Nur – unsere Trägheit obsiegt. Niemals in den 2 Millionen Jahren unserer Evolution haben wir Menschen in größeren Dimensionen als unserer Kleingruppe denken müssen, um unser Überleben zu sichern. Jetzt geht die Evolution zu langsam: wir werden alle leiden, nicht nur die besonders Feigen und Uneinsichtigen. Was dagegen hilft? Wahrscheinlich nichts mehr, aber wenn, dann nur die Erkenntnis jedes Einzelnen um die Auswirkungen seines Tun und Nichtstun, um seine Verantwortung, um seine Manipulierbarkeit und um seine Schwächen. Kurz, genau die Aufklärung, die Mitte des 17. Jahrhunderts in Europa begann, aber zu Beginn des 19. Jahrhunderts „abgeschlossen“ war. Was wir brauchen, mit allen neuen technischen Möglichkeiten, ist Aufklärung – Aufklärung 2.0.

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